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Normalerweise liegen Menschen, die zum Sterben ins Krankenhaus kommen, auf der Palliativstation. Mein Opa nicht. Er hatte vorgesorgt und konnte ein Zimmer in der „Privita Komfortklinik“ beziehen. Schlitzohr.
Er nahm die Dinge selbst in die Hand und hatte entschieden, dass seine Zeit gekommen war. Das mussten wir respektieren. Als er so da saß und erzählte, rechnete ich jedoch fest damit, dass er jeden Moment aufstehen würde. Er sah lebendig aus. Alt, aber lebendig.
Mit fast 94 Jahren war mein Opa Kuddel auf dem Sterbebett der glücklichste Mann im Raum. Es war der Vorabend seines Geburtstages und er wollte seine „Gäste“ nicht enttäuschen. Außerdem hatte er in seinem Leben größere Herausforderungen gemeistert, als dass Sterben ihm die Stimmung vermiesen könnte.
Sein Vater starb, als er noch ein Kind war. Die Schule brach er ab und folgte seinen älteren Freunden unbesonnen in die Hitlerjugend. Um, wie er sagte, „etwas in der Hand zu haben“, absolvierte er rechtzeitig vor Kriegsbeginn eine kaufmännische Lehre. Zur Abschlussprüfung erschien er bereits in Uniform.
Letztes Jahr zog ich nach Berlin, in die Nähe der Kastanienallee. Im selben Alter, während des Endkampfes in Berlin 1945, kämpfte er sich an dieser Stelle durch die feindlichen Linien, um aus Berlin zu fliehen und der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Erschöpft ist er bei einer Rast in den Wäldern am Rande Berlins eingeschlafen und wurde von seinen Kameraden zurückgelassen. Das war sein großes Glück, wie er sagt. Auf sich alleine gestellt war die Chance, erwischt zu werden, geringer. Er machte sich auf einen dreimonatigen Fußmarsch nach Hamburg, seiner Heimatstadt und orientierte sich dabei an der Sonne. Daran muss ich denken, wenn ich mich mit meinem iPhone in der Hand verlaufe.
In Hamburg angekommen hatte er die Wahl zwischen drei Berufen: Maler, Dachdecker oder Tischler. Er entschied sich dazu, auf den Dächern Hamburgs seinen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten. Noch in seinen letzten Jahren, inzwischen fast erblindet, konnte er mir auf gemeinsamen Ausflügen durch Hamburg immer genau sagen, auf welchen Dächern er gearbeitet hat.
Die Zeit als Dachdecker währte nicht lange. Es gab kaum Nahrungsmittel, erst Recht kein Fleisch. Bekannte von Kuddel kamen auf die Idee, einen stehenden Frachtzug aufzubrechen, um ein Paar Kisten Trockenfleisch zu ergattern. Kuddel musste Schmiere stehen. Einige Wochen später stand die Polizei vor der Wohnung seiner Mutter, dort lebte er zur Zeit. Auf dem Dachboden fanden sie die noch fast volle Kiste Trockenfleisch und für Kuddel ging es für acht Monate hinter Gitter. Als er mir die Geschichte erzählte, bereute er, das Fleisch nicht eher verputzt zu haben. Es war für ihn so wertvoll, dass er sich jeden Tag nur ein kleines Stück genehmigte. Außerdem plagte ihn ein schlechtes Gewissen und er war beinahe froh, dass er davon bereinigt wurde. Weniger froh war er über die Tatsache, dass er die nächsten Monate im Gefängnis verbringen musste. Das war jedoch besser, als die russische Kriegsgefangenschaft.
70 Jahre später sitze ich an seinem Sterbebett. Mein Vater, sein Sohn, an seiner Seite. Er kann kaum noch atmen, seine Lungen sind mit Flüssigkeit gefüllt. Er sagt zu mir “Ich habe immer bis zum Schluss gekämpft” und mir wird klar: jeder Atemzug könnte sein letzter sein. Das dachten wir auch gestern, als es hieß, er habe nur noch wenige Stunden zu leben. Ich nahm den ersten Zug aus Berlin und eilte ins Krankenhaus. Als ich dort ankam, saß er in seinem Bett und erzählte einen Witz. “Na, wie laufen die Geschäfte?”, fragt er, als ich sein Zimmer betrete, in dem bereits die restliche Familie versammelt ist. Den gesamten Abend lang macht er nicht den Anschein, als würde er im Sterben liegen. Er sagt zum Abschied fröhlich: “Sieht so aus, als müsstet ihr die Zeremonie morgen noch einmal wiederholen!”
Das taten wir. Am nächsten Tag, seinem Geburtstag, haben wir uns alle um sein Bett versammelt und auf ihn angestoßen. Abends verabschiedeten wir uns endgültig von ihm, jeder für sich. Ich sagte ihm, dass ich sehr stolz auf ihn bin und er mein größtes Vorbild sei. Seine letzten Worte an mich waren: „Dir früher beim Handball zuzusehen war für uns immer die größte Freude. Wie Du über den Platz gelaufen bist, so aufmerksam und lebendig, das war", er machte eine lange Pause, „eine Offenbarung.“ Ich habe es leider versäumt, ihn zu fragen, was genau ihm damit offenbart wurde. Schließlich war ich erst sechs Jahre alt. In meiner Erinnerung sind meine unkoordinierten Bemühungen, den kleinen Ball in das Netz zu werfen, weit entfernt von dem, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an eine Offenbarung denke. Ich verabschiede mich von ihm: „Grüß Oma von mir“. Er lacht.
Man sagt, dass Menschen in Todesnähe ihr Leben Revue passieren lassen. Daher war ich gespannt, was er uns sagen würde, als er tief Luft holte und seine Kraft zusammennahm, um uns eine Botschaft mit auf den Weg zu geben. Es folgte... ein Witz. Und was für einer. Es ging um den Penisvergleich zwischen einem Jungen und einem Pferd. Ich frage mich, was in diesen letzten Stunden in seinem Kopf vorging, dass er sich von all den Dingen, die er hätte sagen können, für einen anzüglichen Witz entschied. Nichts hätte uns mehr gezeigt, dass er mit sich und der Welt im Reinen war.
Nach drei Tagen mit seiner Familie ist er in der Folgenacht seines Geburtstages friedlich eingeschlafen. Zurückblickend waren es für mich drei schöne Tage. Die gemeinsame Erfahrung verbindet unsere Familie. Wir haben ihm einen schönen Abschied ermöglicht. Vor allem aber hat er wahre Stärke gezeigt, indem er selbst im Sterben liegend Witze gerissen, Sprüche geklopft und gelacht hat.
Als ich einige Tage später meine Rede für seine Bestattung schreibe, frage ich mich, ob ich jemals so zufrieden, gelassen, dankbar und gleichzeitig diszipliniert und willensstark wie Kuddel sein werde. Schließlich waren seine einzigartigen Eigenschaften ein Ergebnis der harten Zeiten, durch die er sich kämpfen musste. Das ist bei mir anders, denn vergleichbare Herausforderungen gibt und gab es für mich nicht. Das gilt, zumindest in Deutschland, für einen Großteil meiner Generation. Im Alter, in dem Kuddel 3 Monate lang durch den Dreck nach Hause kroch, in der Lebensphase, in der er im Gefängnis war, weil Trockenfleisch so wertvoll war, um dafür ein “Verbrechen” zu begehen, sorgen wir uns um Fitness und Lifestyle und sind damit besorgt, “uns selbst zu finden”. Wir bekommen nicht nur Midlife- sondern auch Quarterlife-Crisis und Burnout im Studium.
Statt Krieg, Hunger und Ungewissheit haben wir Probleme damit, morgens aufzustehen und abends einzuschlafen, sind oft gereizt aber selten erschöpft, weil wir nicht hart arbeiten und das auch nicht müssen. Wir wurden beschützt und verschont, das hat uns vieles erspart. Doch bezahlen wir jetzt dafür mit dem Gefühl, verloren zu sein. Wir sind die erste Generation in Deutschland, die ohne die direkten oder indirekten Folgen eines Kriegs oder schwerwiegenden Konflikts aufwächst und nach dem Schulabschluss nicht zum Bund oder Zivildienst muss. Wir sind die Ersten, die wirkliche Freiheit haben - und leiden darunter zunehmend.
Wir stellen uns Sinnfragen, die sich vor einigen Jahrzehnten kein 20-Jähriger gestellt hätte. Identitätskrisen, Unsicherheit und Unzufriedenheit sind die Folge. Wir sind wie gelähmt und können das Potential, das Freiheit mit sich bringt, weder ausschöpfen, noch genießen.
Kuddel konnte das, denn er musste sich seine Freiheiten erst verdienen.
Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mir ein so guter Lehrer war und bin mir sicher: wenn meine Enkelkinder einmal so über mich denken, wie ich über ihn, dann ist alles gut. Bis dahin ist es noch ein langer - und mit Anfang 20 - unklarer Weg. Ob die Ungewissheit jemals verschwinden wird, weiß ich nicht - ich bezweifle es stark. Die Sicherheit und Ruhe, den Schutz, den Eltern und Erwachsene aus Sicht eines Kindes ausstrahlen, entpuppen sich mit der Zeit als immer stärker bröckelnde Fassade und es scheint, als würde es den Zustand, den Kinder als “erwachsen” wahrnehmen, gar nicht geben.
In dieser Orientierungslosigkeit suche ich nach Weisheit, Regeln und Prinzipien und finde sie immer wieder unerwartet in Kuddels Leben.
Es geht mir nicht darum, „alles“ richtig zu machen. Auch Kuddel hatte viele Fehler. Mein Ziel ist es, unabhängig von Leid, Niederlagen und Enttäuschung mit einem breiten Grinsen durchs Leben zu gehen, mich selbst nicht so ernst zu nehmen, hart zu arbeiten und mein privilegiertes Leben wertzuschätzen - wie mein Opa es mir beigebracht hat.
English Version
(Translated by ChatGPT)
People who come to the hospital to die are usually placed in the palliative care unit. Not my grandpa. He had planned ahead and secured a room in the "Privita Comfort Clinic”. Not too bad.
He took matters into his own hands and decided that his time had come. We had to respect that. Yet as he sat there talking, I fully expected him to get up at any moment. He looked alive. Old, but alive.
At nearly 94 years old, my grandpa Kuddel was the happiest man in the room, even on his deathbed. It was the eve of his birthday, and he didn’t want to disappoint his "guests." Besides, he had overcome greater challenges in his life—dying wasn’t going to spoil his mood.
His father died when he was still a child. He dropped out of school and followed his older friends, recklessly joining the Hitler Youth. Wanting, as he put it, "to have something in hand," he completed a commercial apprenticeship just in time before the war began. He showed up for his final exam already in uniform.
Last year, I moved to Berlin, near Kastanienallee. At the same age, during the final battle in Berlin in 1945, he fought his way through enemy lines at that very place to escape the city and avoid being taken as a prisoner of war. Exhausted, he fell asleep during a rest stop in the forests on the outskirts of Berlin and was left behind by his comrades. That, he said, was his greatest stroke of luck. Being alone meant he had a lower chance of being caught. He then embarked on a three-month journey on foot back to his hometown of Hamburg, navigating by the sun. I think about that whenever I get lost while holding my iPhone.
When he arrived in Hamburg, he had three career choices: painter, roofer, or carpenter. He decided to do his part in rebuilding Hamburg from the rooftops. Even in his final years, nearly blind, he could still point out the roofs he had worked on whenever we took walks through the city.
His time as a roofer didn’t last long. There was hardly any food—let alone meat. Some of Kuddel’s acquaintances came up with the idea of breaking into a stationary freight train to snatch a few crates of dried meat. Kuddel was on lookout duty. A few weeks later, the police showed up at his mother’s apartment, where he was living at the time. They found the still mostly full crate of dried meat in the attic, and Kuddel was sentenced to eight months in prison. When he told me this story, he regretted not having eaten the meat sooner. It was so valuable to him that he allowed himself only a tiny piece each day. He also suffered from a guilty conscience and was almost relieved to be "purged" of it. What he wasn’t so relieved about was having to spend the next few months in prison. Still, it was better than Russian captivity.
Seventy years later, I sat by his deathbed. My father, his son, by his side. He could barely breathe; his lungs were filled with fluid. He said to me, "I have always fought until the very end," and I realized that every breath could be his last. That’s what we thought yesterday, too, when we were told he only had a few hours left. I took the first train from Berlin and rushed to the hospital. When I arrived, he was sitting up in bed, telling a joke.
"So, how’s business?" he asked as I entered his room, where the rest of the family was already gathered. The entire evening, he didn’t seem like a man on his deathbed. When we said goodbye, he cheerfully remarked, "Looks like you’ll have to do the ceremony all over again tomorrow!"
And so we did. The next day, on his birthday, we all gathered around his bed and raised a toast to him. That evening, we each said our final goodbyes. I told him how proud I was of him, that he was my greatest role model. His last words to me were: "Watching you play handball was always our greatest joy. The way you ran across the court, so focused and full of life—that was," he paused for a long time, "a revelation."
I regret not asking him what exactly had been revealed to him. After all, I was only six years old back then. In my memory, my clumsy attempts to throw a small ball into a net were far from what comes to mind when I think of a revelation. As I said goodbye, I told him, "Say hi to Grandma for me." He laughed.
They say people reflect on their lives as they near death. So I was curious to hear what he would say when he took a deep breath and mustered his strength to leave us with a final message. What followed... was a joke. And quite a joke at that. It was about a size comparison between a boy’s penis and a horse’s.
I wonder what was going through his mind in those last hours that made him choose an off-color joke over all the other things he could have said. But nothing could have shown us more clearly that he was at peace with himself and the world.
After three days with his family, he passed away peacefully in his sleep the night after his birthday. Looking back, those were three beautiful days for me. The shared experience brought our family closer together. We gave him a proper farewell. But most of all, he showed true strength—cracking jokes, making witty remarks, and laughing, even as he lay dying.
A few days later, as I sat down to write my speech for his funeral, I asked myself whether I would ever be as content, composed, grateful, and at the same time as disciplined and determined as Kuddel was. After all, his unique qualities were shaped by the hardships he had to endure.
It’s different for me—because I never had to go through anything like that. In fact, for most people in my generation in Germany, comparable struggles simply don’t exist. At the age when Kuddel crawled through the mud for three months to get home, when he went to prison because dried meat was valuable enough to commit a "crime" for, we worry about fitness and lifestyle and are preoccupied with "finding ourselves."
We don’t just have midlife crises—we have quarter-life crises and burnout during university.
Instead of war, hunger, and uncertainty, we struggle with getting out of bed in the morning and falling asleep at night. We’re often irritated but rarely exhausted—because we don’t work hard, and we don’t have to. We were sheltered and spared, which saved us from a lot. But now we pay the price: a sense of being lost.
We are the first generation in Germany to grow up without the direct or indirect consequences of war or major conflict. We don’t have to serve in the military or do civil service after school. We are the first to have true freedom—and we are struggling with it.
We ask ourselves questions about meaning that no 20-year-old would have asked a few decades ago. Identity crises, insecurity, and dissatisfaction are the result. We feel paralyzed, unable to fully use or enjoy the potential that freedom offers.
Kuddel could—because he had to earn his freedom first.
I am grateful that he was such a great teacher to me. And I know this: If one day, my grandchildren think about me the way I think about him, then everything will be just fine.
Until then, the road ahead is long—and in my early twenties, unclear. I don’t know if the uncertainty will ever go away—I doubt it. The sense of security and stability that parents and adults exude in a child’s eyes turns out to be a crumbling facade over time, and it seems as if the state that children perceive as "being grown up" doesn’t really exist.
In this disorientation, I search for wisdom, rules, and principles—and I keep unexpectedly finding them in Kuddel’s life.
I’m not trying to do "everything" right. Kuddel made plenty of mistakes. My goal is to go through life with a big grin, no matter the suffering, setbacks, or disappointments; to not take myself too seriously; to work hard; and to appreciate my privileged life—just as my grandpa taught me.